Zum Genitiv-s in stratigraphischen Termini

Juni 2007: Antwort von Prof. Dr. Hardarik Blühdorn, Institut für Deutsche Sprache, Mannheim auf die Anfrage von Dr. Hans Hagdorn, Ingelfingen, zum Gebrauch des Genitiv-s in stratigraphischen Termini:

„In der Tat lässt sich beobachten, dass das Genitiv-s im gegenwärtigen Sprachgebrauch des Deutschen in verschiedenen Fällen weggelassen wird, und zwar nicht nur bei Wörtern, die auf -s enden, wie /Sozialismus/ oder /Atlas/, oder deren Aussprache auf -s endet, wie /Index /oder /März/, sondern auch bei Namen von Stilepochen (/des Barock/), bei Monatsnamen (/des Mai/), bei Flussnamen (/des Mississippi/), bei Arzneimittelnamen (/des Aspirin/), bei Namen von Heiligen (/des heiligen Joseph/) und eben auch bei wissenschaftlichen Termini wie etwa den geologischen Schichtbezeichnungen, wie Sie schreiben.

Die neuste Auflage der Duden-Grammatik (2005) enthält über den Wegfall der Genitiv-Endung ein eigenes, relativ ausführliches Kapitel (S. 203ff.), das noch viele weitere Beispiele gibt. Die Duden-Grammatik erklärt den Wegfall der Genitiv-Endung überzeugend als eine Erscheinung des Sprachwandels, die sich zur Zeit in der deutschen Grammatik vollzieht. Das bedeutet, dass in manchen Bereichen die Genitiv-Endung zuerst wegfällt (vor allem bei Eigennamen und technischen Termini). Dagegen verhält sich der Kernbestand der deutschen Substantive konservativer und ist gegen diesen Wandel zunächst noch resistent. Deshalb müssen Beispiele wie /des Tisch/ oder /des Himmel/ im Moment noch als ungrammatisch, d.h. standardsprachlich nicht korrekt gelten. Dagegen können Fälle wie /im Laufe des Januar/ oder /die Reaktionen des alten Europa/ gegenwartssprachlich schon als eingebürgert und deshalb auch standardsprachlich als korrekt gelten.

Voraussagen lässt sich, dass das Genitiv-s bei Substantiven weiter schwinden und am Ende verschwinden wird. Nicht voraussagen lässt sich, wie schnell das gehen wird. Es ist gut möglich, dass sich der Kernbestand der deutschen Substantive auch weiterhin konservativ verhalten wird und dass es deshalb noch sehr lange dauern wird, bis das Genitiv-s insgesamt verschwunden ist. Aber man kann auch nicht ausschließen, dass es schneller geht.

Die Frage ist nun, was für Empfehlungen man daraus ableiten kann. Die Diskussion um die Rechtschreibreform hat gezeigt, dass in der deutschen Sprachgemeinschaft insgesamt eine konservative Grundhaltung vorherrscht und dass Sprache, Sprachgebrauchsregeln und Sprachwandel Themen sind, bei deren Wahrnehmung und Beurteilung typischerweise nicht nur rationale, sondern auch affektive Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Änderungen der Grammatik finden kontinuierlich statt. Es gibt aber besonders neuerungsfreudige Gruppen von Sprachbenutzern, bei denen sie sich besonders schnell einbürgern, und es gibt umgekehrt sehr konservative Sprachbenutzer, die sich lange resistent verhalten. Insgesamt setzen sich Grammatik-Änderungen in der deutschen Sprachgemeinschaft typischerweise eher langsam durch.

Ich rate deshalb nicht dazu, eine generelle Empfehlung auszugeben, bei den geologischen Schichtbezeichnungen auf das Genitiv-s zu verzichten. Gerade unter Wissenschaftlern ist konservatives Sprachbewusstsein weit verbreitet. Auf die damit verbundenen affektiven Reaktionen sollte Rücksicht genommen werden. Es gibt keinen Grund, eine allgemeine Norm zu erlassen, die den Gebrauch des Genitiv-s bei den Schichtbezeichnungen abschafft. Eine solche Norm gäbe nicht den gegenwärtig erreichten Stand der Sprachentwicklung des Deutschen wieder. Viele Sprecher des Deutschen empfinden /des Bundsandstein/ oder /des Muschelkalk/ noch als grammatisch unkorrekt, auch wenn sie selber /des Jura/ oder /des Karbon/ schon akzeptieren. Bei Wörtern mit deutschem Hintergrund greifen solche Änderungen langsamer als bei Fremdwörtern. Darauf sollte unbedingt Rücksicht genommen werden.

Umgekehrt schiene mir auch eine Empfehlung, die generell auf der Realisierung des Genitiv-s besteht, nicht ratsam. Der Wandel weg vom Genitiv-s ist Realität und wird sich fortsetzen. Es gibt keinen Grund, Normen zu erlassen, die sich gegen den Sprachwandel stellen, und es wäre auch sinnlos, das zu tun. Solche Normen sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Meine Empfehlung lautet deshalb, auf eine allgemeine Norm zum Genitiv-s von der Art, wie sie Ihnen möglicherweise vorschwebt, zu verzichten. Aus meiner Sicht entsteht kein Schaden dadurch, dass die Wissenschaftlergemeinschaft es dem einzelnen Autor überlässt, ob er sich in seinem Sprachgebrauch konservativ oder progressiv verhalten möchte. Ich persönlich verhalte mich sprachlich eher konservativ, und ich reagiere mit Empfindlichkeit und Ablehnung auf Normen, die mir ein anderes Sprachverhalten vorschreiben wollen. Viele meiner Kollegen verhalten sich umgekehrt eher progressiv und nehmen Neuerungen schnell in ihren Sprachgebrauch auf. Sie reagieren ebenfalls empfindlich auf Normierungsvorgaben, die ihnen das verbieten wollen.

Meiner Meinung nach sollte es gerade in Fragen des Sprachwandels, bei denen es grundsätzlich keine allgemeine Entscheidung über Richtig und Falsch geben kann, dem einzelnen Sprecher überlassen bleiben, wie er sich ausdrückt. Der allgemeine Sprachgebrauch wird sich von ganz allein allmählich hin zum Wegfall des Genitiv-s entwickeln, und die Geschichte wird zeigen, wie schnell oder langsam das geschieht. In der Zwischenzeit ist es für niemanden ein Problem, beide Varianten zu verstehen.

Das Genitiv-s stellt übrigens auch kein Verständnisproblem für Deutsch lesende Ausländer dar, schon gar nicht für Sprecher des Englischen, die in ihrem sächsischen Genitiv bei Personennamen selbst das Genitiv-s haben. Das Deutsche bietet ganz andere und anspruchsvollere grammatische Schwierigkeiten für nicht-deutschsprachige Leser. Wer überhaupt wissenschaftliche Texte auf Deutsch liest, der kann mit der Variation der Genitiv-Formen völlig problemlos umgehen. Denjenigen Autoren, die davon nicht überzeugt sind, steht es frei, auf das -s zu verzichten. Autoren, die von vornherein auf Englisch schreiben, um nicht-deutschsprachige Leser zu erreichen, haben das Problem ebenfalls nicht.

Es gibt also keinen Grund, in dieser Frage eine allgemeine Regelung zu erlassen. Wer das behauptet, verkennt die Natur der Sprache. Ein variabler Sprachgebrauch beim Genitiv-s kann schadlos toleriert werden und sollte im Interesse der Wissenschaftlergemeinschaft toleriert werden. Jede Norm in einer solchen Frage, ob eine konservative oder eine progressive, würde die normgebende Instanz berechtigter Kritik aussetzen. Aus meiner Sicht wäre es gänzlich unnötig, das in Kauf zu nehmen.

In der Hoffnung, Ihnen damit weitergeholfen zu haben, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen aus dem Institut für Deutsche Sprache,

Prof. Dr. Hardarik Blühdorn

 

 

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